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ECHO CHAMBER

30 m x 9,50 m x 2,85 m, PVAC Wandfarbe/acrylic wallpaint,
Kunstverein Ahlen, 2011

1. Ausstellung der Reihe "Rethinking Space"
kuratiert von Dr. Anne Schloen

Katalogtext siehe unten / catalogue text below














“ECHO CHAMBER” von Dr. Anne Schloen

Mit herkömmlichen Sehgewohnheiten lässt sich ECHO CHAMBER nur schwer erfassen und begreifen. Zu sehen ist ein System aus Linien und Flächen, die sich auf den Wänden und der Decke des 300 qm großen, architektonisch komplexen Ausstellungsraumes ausbreiten. Diese Elemente sind scheinbar perspektivisch angeordnet, so dass auf den Wandflächen illusionistische Bildräume entstehen. Ständig wechselnde Fluchtpunkte und viele Verschachtelungen innerhalb der Perspektive lassen allerdings keine logische Ordnung erkennen, die alles miteinander verknüpft. Doch nicht nur das irritiert die gewohnte Wahrnehmung. Die Elemente sind so gesetzt, dass auf den Wänden Richtungen, Perspektiven, Rhythmen entstehen und der statische Raum mit seinen architektonischen Determinanten auf einmal in Bewegung gerät.

Von einem einzigen Standpunkt aus alles gleichzeitig wahrzunehmen, ist für den Betrachter nicht möglich. Es sind die wechselnden Positionen im Raum und damit die unterschiedlichen Blickwinkel auf die Arbeit, die für die vollständige Betrachtung notwendig sind. Doch erst im Kopf des Betrachters setzt sich das Raumbild dann ganz zusammen – in der Synchronität von Betrachtung und Erinnerung an das gerade Gesehene.

Ausgangspunkt von Christine Rusches Raum-Zeichnungen ist immer der jeweilige Ausstellungsraum. Dabei interessieren die Künstlerin nicht nur die sichtbaren, sondern auch die unsichtbaren Koordinaten, die die Wahrnehmung des Raumes mitbestimmen: Welche Atmosphäre, welcher Charakter, welche spezifischen Eigenheiten prägen den Raum? Diese immateriellen Aspekte und die materielle Struktur des Raumes, seine Volumina, Rhythmen und Proportionen aufgreifend konzipiert Christine Rusche eine fiktive Raumstruktur, die zugleich ortsbezogen und autonom ist. Zwischen der vorhandenen Architektur und der hinzugefügten Arbeit entsteht so eine untrennbare Einheit, in der der Raum zugleich Ausgangspunkt, Träger und Teil der Raum-Zeichnung ist.

Es sind zwei unterschiedliche, sich überlagernde und nahtlos ineinandergreifende Raumkonstruktionen, die in den Raum-Zeichnungen zu sehen sind: Einerseits der tatsächlich vorhandene, der architektonische Raum und andererseits der imaginäre Raum, der zwar nur auf der Oberfläche des realen Raumes existiert, aber dennoch ebenso präsent ist, da die raumabschließende Funktion der Wände scheinbar aufgelöst und der Innenraum nach Außen geöffnet wird. Dieses Wechselspiel von realem und fiktivem Raum, von Zwei- und Dreidimensionalität, von Illusion und Realität, Bild und Wirklichkeit fordert den Betrachter heraus, sich immer wieder neu zur orientieren und mit dem eigenen Standpunkt im Raum auseinanderzusetzen.

Das Eingreifen in bestehende Architektur mit künstlerischen Mitteln, die Verbindung von Raum, Wand und Bild, das Spiel mit Fläche und Raum, die Überlagerung von Realität und Illusion – das alles erinnert an Wandmalereien aus vergangenen Epochen. Seit der Antike haben Künstler Wände nicht einfach nur als Bildträger verwendet, sondern mit der Malerei auch Räume geöffnet: Es wurden Architekturen weitergebaut, Ausblicke auf Landschaften geschaffen und phantastische Sphären in die Alltagswelt hineingeholt. Christine Rusche bezeichnet ihre Arbeiten jedoch ganz bewusst nicht als Wandmalereien, sondern als Raum-Zeichnungen, da ihr Interesse nicht der Malerei auf einer einzelnen Wand gilt, sondern der Erschaffung temporärer Orte. Um das zu erreichen, setzt sie zeichnerische Mittel ein, die zugleich auch eine raumbildende Wirkung haben. Die von ihr ausgewählte schwarze Farbe ist matt und lichtabsorbierend. Sie unterstützt die physische Präsenz der gemalten Formen und lässt sie als Teil der vorhandenen Architektur erscheinen. Auf diese Weise entsteht zwischen den schwarzen und weißen Farbflächen ein Gegensatz, der das Skulpturale der Arbeit betont und die flächigen Formen in eine räumlich-skulpturale Dimension überführt.

Nichts ist schwerer zu wissen, als was wir eigentlich sehen, schrieb 1945 der französische Philosoph Maurice Merleau-Ponty. Das scheint auch auf die Arbeit von Christine Rusche zuzutreffen. Ihre Raum-Zeichnungen zeigen etwas, was sich nicht einordnen lässt und irgendwie dazwischen ist – zwischen Malerei, Skulptur und Architektur, zwischen Realität und Imagination. Es ist das utopische und zugleich poetische Potential des jeweiligen Raumes, das von Christine Rusche erforscht und in ihren Arbeiten dann für kurze Zeit sichtbar gemacht wird. Sobald die Ausstellung vorbei ist, verschwindet die Raum-Zeichnung unter einer Schicht weißer Farbe, so dass wieder genau das erscheint, was der Ausgangspunkt der Arbeit war: der leere weiße Ausstellungsraum.

 

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