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DEUCE
10 m x 10 m x 6 m, PVAC Wandfarbe / Acrylic wall paint, 2005 |
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“Verwinkelte Blickwinkel und andere Fluchtlinien” „Is there a language of space (a space-language)?“, fragt der französische Architekt Bernard Tschumi in seinen Questions of Space – und diese Frage kann man getrost einem Text über die Raumzeichnungen von Christine Rusche voranstellen. Nehmen wir zum Beispiel ihre jüngste Arbeit DEUCE im Württembergischen Kunstverein Stuttgart. Es fällt schwer, diesen Raum in Sprache zu fassen, denn er widersetzt sich allen Konditionierungen und Gesetzmäßigkeiten. Sobald man ihn durch eine vergleichsweise schmale Tür betritt, verliert der Blick den Boden unter den Füßen, wird hineingezogen und driftet einfach weg. Wie ein Schlagschatten erstreckt sich eine schwarze Fläche über drei Wände, setzt in etwa sechs Metern Höhe an der oberen rechten Ecke an, um sich auf Hüfthöhe im stumpfen Winkel wieder bis zum gegenüberliegenden Wandabschluss emporzuarbeiten. Schwarze Markierungen durchschneiden wie Rasierklingen die weiß getünchte Wand, zerteilen den Treppenaufgang, bilden Ebenen, von denen der Blick sofort wieder abgleitet. Man sucht Orientierung, versucht den in sich gestürzten Perspektiven zu begegnen, indem man den Blick und den ganzen Körper dreht und wendet. Man sieht sich gezwungen, diesen Raum in vier Dimensionen zu erleben. Man steht und schaut, schaut im Gehen, versichert sich immer wieder seines eigenen Standortes, ebenerdig und dann die Treppe nach oben, bis es einen durch eine zweite Tür hinauskatapultiert. „Does the experience of space determine the space of experience?“, fragt Bernard Tschumi – und Christine Rusche würde antworten: Natürlich bestimmt die Erfahrung des Raumes den Raum der Erfahrung. Und natürlich ist der Raum deshalb kein objektiver, unverrückbarer Tatbestand, sondern eine relative Befindlichkeit, die maßgeblich von der Art und Weise unserer Erfahrung abhängt. Anders aber als der Architekt baut Rusche keine Räume, sondern sie greift in bestehende Räume mit künstlerischen Mitteln ein. Dabei transformiert sie den jeweiligen Raum mit ausschließlich zeichnerischen und dennoch raumbildenden Mitteln. Zunächst ortet die Künstlerin den Raum und ergründet seine phänotypische Beschaf-fenheit. In einem zweiten Schritt entwickelt sie anhand eines maßstabsgetreuen Raummodells eine zweidimensionale Zeichnung, die so angelegt ist, dass die Wände nur vordergründig als Flächen, weit eher aber als raumbildende Elemente fungieren. Abschließend wird diese Zeichnung in den Raum übertragen, wobei der bestehende Raum zugleich Träger und Teil der Raumzeichnung ist. Die Erfahrung des Raumes bleibt so tatsächlich an den Raum der Erfahrung gekoppelt, geht gleichzeitig aber weit darüber hinaus. Der bestehende Ort existiert und wird durch die Zeichnung zugleich disloziert. „Is the perception of space common to everyone?“ Im Grunde schon, aber dieser Raum, den Christine Rusche eigens für den Württembergischen Kunstverein Stuttgart erarbeitet hat, besteht eigentlich aus zwei Räumen. Und wenn der Titel der Arbeit DEUCE insgeheim suggeriert, es handle sich hier um eine Art Gleichstand zweier wettstreitender Räume, dann wird sofort deutlich, welcher von beiden hier als Sieger vom Platz gehen wird. Da ist einerseits ein physischer Raum von 11 x 8 x 6 Metern; ein leerer Raum mit Zu- und Ausgang, mit Wänden, Boden und Decke, die ihn eingrenzen, ihn definieren und damit die Koordinaten unserer Wahrnehmung abstecken. Wir können den Raum begreifen, indem wir ihn abschreiten oder in statistische Werte zergliedern, unsere Wahrnehmung aber wird diesen statistischen Raum stets überschreiten. Denn der zweite Raum resultiert aus einer Raumzeichnung, die zwar lediglich auf der Oberfläche dieses ersten Raumes existiert, deren Wirkung aber nicht weniger physisch ist. Dieser Eindruck ist eklatant, und er vereinnahmt unsere Wahrnehmung, sobald wir uns als Subjekte in diesem Raum positionieren, unsere Position verändern und gewissermaßen jenen Zwischenraum betreten, der sich zwischen uns und den physischen Grenzen dieses Raums auftut – und darüber hinaus. „If space has boundaries, is there another space outside those boundaries?“ Auch diese Frage Bernard Tschumis muss man im Hinblick auf Christine Rusches Arbeiten bejahen. Dass ihre Raumzeichnung den bestehenden Raum gänzlich auflöst, wäre zu viel gesagt, da dieser konkrete Raum im Württembergischen Kunstverein Stuttgart ja letztlich immer da ist. Weit wichtiger aber ist, dass Christine Rusche die Grenzen des Raumes immer in zwei Richtungen überschreitet. So vermeidet sie es auf souveräne Weise, den bestehenden Raum nur um den Schein eines weiteren illusionistischen Bildraums anzureichern. Statt dessen etabliert sie einen Illusionismus, der an jedem Ort und aus jeder Perspektive zwei Fluchtpunkte anvisiert: der eine liegt jenseits der physischen Begrenzungen des Raumes, während die anderen Fluchtlinien direkt auf den Betrachter zielen. Die extreme Dynamik dieser Raumzeichnung ist nicht nur Bewegung, sie initiiert sie auch beim Betrachter. Mit jedem verwinkelten Blickwinkel verändert sich der Blick. Jeder Blick eine Projektion, die regelmäßig an der Illusion des Raumes scheitert, über Eck zerschellt und zum Betrachter zurückkehrt. Jede Projektion ein wirkmächtiger Einfluss, von dem man nicht sicher sein kann, ob er von der Zeichnung oder vom Betrachter ausgeht. Wollte man diese ständig wechselnden Fluchtlinien und Projektionen visualisieren, dann würde man endgültig verstehen, dass Christine Rusches Raumzeichnungen eines nicht zulassen: sie über gängige Konditionierungen und Gesetzmäßigkeiten begreifen zu wollen. Man muss sie erleben! Alle Zitate aus: Bernard Tschumi, Questions of Space, in: Ders., Architecture and Disjunction, MIT Press, Cambridge, Mass. 1996, S.53-62. |
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